Seitenansicht übereinander gestapelter Vinylplatten
©Moritz Schleiffelder

PORTRAIT NEUSTART KULTUR STIP-I (2020/21)

Sascha Brosamer - Der Klangmaler

„Klänge sind für mich Malerei“, sagt der Sound Artist Sascha Brosamer. Als Ort für das Interview schlägt er das Kottbusser Tor vor, Berlins wohl bekanntesten Brennpunkt in Kreuzberg und Ur-Ort des Punk, wo Konfetti auf Blut und Dinkelkekse auf weißes Pulver treffen. Er steht neben einem türkischen Café mit einem Koffer, in dem ein Hundert Jahre altes Reisegrammophon und Schellackplatten sind – aber dazu später mehr.

Sascha Brosamers Kunst besteht darin, Geräuschen ein Gesicht zu geben, gewissermaßen das Sehen bei Malerei hörbar und das Hören bei Musik sichtbar zu machen. „Wenn man vor einem Gemälde von Rothko steht, ist es aus meiner Sicht dasselbe Gefühl, wie wenn man in einem Ambient-Konzert ist“, sagt der interdisziplinäre Klangkünstler. „Und es ist genau dieses Gefühl, das mich interessiert.“

Um sich das vorstellen zu können, muss man mit Brosamer in die Vergangenheit reisen. Walter Benjamin etwa prägte 1935 in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ den Begriff der Aura, die die Unnahbarkeit, Echtheit und Einmaligkeit eines Kunstwerks beinhaltet. All dies ginge laut Benjamin durch die Massenfertigung verloren. Für Brosamer ist es genau diese Aura, sind es diese Momente der Unverfälschtheit, die er in seiner Arbeit aufspüren möchte.

Beispielsweise mit „Electric Guitar via Smartphones“ – die Handys der Besucher:innen dieser Performance dienen als Lautsprecher für das Signal der E-Gitarre von Brosamer, die mithilfe der Web-Applikation „Grainfield" in einer Art Intranet mit ihm und untereinander verbunden sind. Die Zuhörer:innen werden so zu Mitspieler:innen in einem immersiven Erlebnis voll dröhnender, wabernder, flimmernder Gitarrenklänge, das die Hierarchie von Popkonzerten aufhebt. „Es entsteht ein granulares Echo im Raum“, so nennt es Brosamer. „Mir geht es um eine neue Wahrnehmung von Klang im digitalen Zeitalter. Der Maler und Erfinder der britischen Pop Art, Richard Hamilton, hat ab 1956 das 'Interior' collagiert und gemalt, mit dem Fernseher, und der Botschaft: ‚Das Private ist öffentlich‘. Das Smartphone ist die extremste Version davon. Man nimmt es morgens als erstes in die Hand, hat es überall dabei, sogar im Bett, unserem intimsten Ort!“ Und er fügt hinzu: „Wer sich die Technik einer Zeit bewusst macht, weiß auch, was mit der Gesellschaft passiert.“

Ein anderer Gegenstand, der den Künstler inspiriert, sind die bereits erwähnten Schellackplatten. Der fragile Vorläufer der Vinylschallplatte besteht aus einer harzigen Substanz, die aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus Kerria lacca gewonnen wird. Man könnte also sagen: Der Beginn der Reproduzierbarkeit von Musik begann mit Scheiße. „Wir sollten unseren Blick auf die 1920er-Jahre richten, als praktisch über Nacht auf der ganzen Welt auf einmal Schallplatten verbreitet wurden, und Rückschlüsse aus dieser Zeit zur Gegenwart ziehen“, sagt Brosamer. „Weil: Das war der Beginn der Musikindustrie.“ Er zitiert erneut Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, spricht über die Reproduzierbarkeit, aber auch die Begrenztheit des Mediums. „Den 3-Minuten-Popsong gibt es ja nur, weil die Platte wenig Platz fasst.“ Zu wenig Raum für die Art von Musik, die Art von Gedanken, die Brosamer zum Klingen bringen. Überhaupt: Ausbruch aus Grenzen, aus Enge, aus Engstirnigkeit scheint sein Antrieb.

 

Punk als neue Heimat

Aufgewachsen in Zell am Harmersbach, einem Kaff im Schwarzwald, wurde ihm früh klar, dass er mit einer Gruppierung in der Gegend nichts zu tun haben möchte: Jenen Cliquen, die den Geburtstag von Hitler in Waldhütten feierten, die auf Partys in der Halle neben dem Sportplatz Böhse Onkelz spielten, die 300 Meter neben seinem Elternhaus Dorfdiskos veranstalteten im ehemaligen KZ-Außenlager in Haslach im Kinzigtal (wo einst seine Großmutter den barfüßigen Gefangenen im Winter Früchte am Zaun versteckt hat). Dies prägte den jungen Brosamer ebenso wie der kompetente Geschichtslehrer, der die Kinder Erinnerungskultur lehrte. Und so flüchtete Brosamer als Heranwachsender so oft wie möglich in die nächstgelegene größere Stadt Offenburg, wo er im Jugendhaus eine Heimat fand, mehr noch, eine Offenbarung: Punk. „Das war Rebellion! Damit konnte ich mich identifizieren. Dort habe ich internationale Punkbands gesehen, zum Beispiel aus dem globalen Süden, aus Brasilien. Da stellte ich fest: Es gibt eine Community auf der Welt!“ Und die ist bis heute seine Passion. Hinzu kam Krautrock, Noise, Avantgarde. Das erste Riff, das er sich auf der Gitarre beibrachte, war „Every You Every Me“ von Placebo.

Nach der Schule absolvierte er eine Bauzeichnerausbildung, haute mit 18 nach Freiburg ab, machte sein eigenes Ding. Ohne je eine Musikstunde genommen zu haben, wurde er als 24-Jähriger als einer von zwölf Studierenden für den Studiengang Musik- und Medienkunst in Bern ausgewählt. Brosamer lebte in einem besetzten Haus, setzte sich für Geflüchtete ein, stellte Workshops zu sozialer Gerechtigkeit auf die Beine. Und irgendwann, zwischen dem Besuch des NATO-Gipfels in Straßburg und des G8-Gipfels in Heiligendamm, stellte er nach und nach fest: „Es war eine gute Ausbildung, aber ich habe mich nicht wohl und willkommen gefühlt in der Schweiz.“ Zu starr die Strukturen – also brach er das Studium ab und schrieb sich für den Studiengang Freie Kunst (Malerei/Grafik) an der Kunstakademie in Karlsruhe ein. 

Was er mitnahm aus Bern: Seine Liebe zu Brian Eno, Sonic Youth, Laurie Anderson. Vor allem aber: einen erweiterten Kunst- und Musikbegriff. „In Karlsruhe konnte ich mich ausleben und habe Musik mit Malerei verbunden: An der Uni standen Leinwand, Gitarre und Verstärker, und mal haben wir gemalt, mal gejammt. Wir waren ein Haufen schräger Vögel, die einfach ausprobiert haben.“

Politik mit Kunst zu verbinden, ist bis heute zentraler Bestandteil des Werkes von Sascha Brosamer: Bei seiner Forschung zu Schellackplatten etwa geht es ihm nicht nur um das Durchleuchten von Kommerzialisierung von Musik, sondern um die Sichtbarmachung von Aneignung von Black Culture. „Little Richard zum Beispiel war so ein Revolutionär – und Elvis hat die Lorbeeren eingeheimst. Weiße haben sich der Musikkultur der People of Colour bemächtigt. Ich nehme meine Verantwortung ernst, diesen Skandal mit meiner Kunst zu vermitteln und Dialog zu fördern“, sagt er.

Nach seinem Abschluss in Karlsruhe bekam er ein Stipendium und zog für drei Jahre nach Paris. Dort begann er, in einem Tunnel an der gerade erst stillgelegten Straße neben der Seine, Konzerte und Videoinstallationen zu veranstalten. Reine Provokation: Er nannte das Soundprojekt „Louvre Underground“ und stellte das berühmte Logo des Museums auf den Kopf, sodass es einfach nur noch ein banales Dreieck darstellte. Damit wollte Brosamer Kritik an der Sammlung des Louvre üben, das als Institution einer ehemaligen Kolonialmacht nach wie vor Raubkunst ausstellte.

Seine Reisen führten ihn nach Südafrika, wo er die Folgen der Apartheid kennenlernte, oder nach Sri Lanka, eine seiner emotional herausforderndsten Recherchen überhaupt: „Im Land wütete von 1983 bis 2009 ein Bürgerkrieg. Menschen meiner Generation sind von Geburt an mit Krieg aufgewachsen. In Pogromen wurden Zehntausende Tamilen ermordet. Es gibt dort noch keine Erinnerungskultur und viele Leute haben gegenüber mir zum ersten Mal überhaupt erzählt, was ihren Familien und Freunden angetan wurde. Ich habe mich jeden Abend in den Schlaf geweint“, erzählt Brosamer sichtlich bewegt. Und um auf den Horror ebenso wie auf das Totschweigen aufmerksam zu machen, hat Brosamer seine Kunst sprechen lassen: Er hat die Stille, genauer: die Umgebungsgeräusche der Ruine eines Kinos in Colombo aufgenommen, in der Tamilen angezündet wurden und das geplündert wurde. Ein in der Abwesenheit von rettenden Klängen wirkmächtiges Zeugnis des Grauens.

Am Ende des Gesprächs gibt es aber doch noch etwas auf die Ohren: Draußen neben einem Späti packt Brosamer sein Koffergrammophon aus, legte eine Platte auf, dreht die Kurbel – und plötzlich wird die morgendliche Szene auf diesem harten Pflaster zu einer Zeitreise. Der Besitzer des Kiosks tritt lächelnd an seine Ladentür, Passanten lugen interessiert herüber. „Mich fasziniert an Schellackplatten, dass es wie eine Schatzsuche ist“, sagt der Klangkünstler.

Diese Szene am Kottbusser Tor steht repräsentativ für das Projekt, mit dem er sich während des Stipendiums des Musikfonds beschäftigt hat: Das Reisegrammophon ist ebenso wie das Smartphone ein Gerät, das zum mobilen Musikhören bestimmt ist – damals eine Revolution, heute Normalität. Brosamer verglich beide Geräte und ihre Symbolkraft, sowie historische und gegenwärtige Hörgewohnheiten. “Genauso wie wir heute überall mit dem Handy herumlaufen, alles abfilmen und damit Musik hören, so liefen Adorno und Benjamin damals als Studenten herum und stellten fest: Wow, es gibt jetzt auf einmal überall diese Schellackplatten”, sagt Brosamer. Wie ein Archäologe erforschte er die Geschichte der Musik als Massenkultur. So fand er etwa ein Foto aus den 1930ern, wo am Strand Männer in Badehosen und Frauen in hochgeschlossenen Badeanzügen dem Reisegrammophon zuhören. Auch ist es Wegbereiter der Clubkultur. Und nicht umsonst hat der Grammy, der wohl wichtigste Musikpreis der Welt, die Form eines goldenen Grammophons. “Das Stipendium hat mir ermöglicht, eine Recherche in Archiven in Freiburg, Berlin und Paris zu unternehmen. Diese Zeit hätte ich mir sonst nie nehmen können”, sagt er. So förderte Brosamer gewissermaßen Ausgrabungen zu Hundert Jahren Musikgeschichte zutage.

Text: Ariana Zustra