Portrait von vier Künstler:innen
©Christopher Bühler

Portrait Neustart Kultur Stip-I (2020/21)

Viktoriia Vitrenko - Lost im Cyberspace

Mit Chatroom hat Viktoriia Vitrenko einen digitalen Erlebnisraum erschaffen, der Tanz, Musiktheater und Gaming zusammendenkt.

Woran denkt man bei Gaming? Vielleicht an „FIFA“, das beliebteste Konsolen- und Computerspiel hierzulande. Oder an „Super Mario“ und „Egoshooter“ und die moral panic, die den Diskurs um diese Spiele umgibt. Als Kulturgut begreifen es die wenigsten, auch wenn Videospiele seit 2006 in Frankreich offiziell als Kulturgut und eine Form künstlerischen Ausdrucks begriffen werden; auch in Deutschland gibt es seit einigen Jahren einen lebendigen Diskurs darum, ab wann ein Computerspiel als künstlerisches Produkt gilt und nicht nur als Alltagskulturgut. Die Stiftung Digitale Spielkultur veranstaltete sogar in Analogie zum „Literarischen Quartett“ ein „Quartett der Spielekultur“ mit Ausgaben im Berliner Gropius-Bau, bei der Gamescom, im Münchener Pathos-Theater und im Rahmen des internationalen Indie-Spielefestivals A.Maze. 

Dass Tanz, Musiktheater und Gaming zusammenkommen könnten, auf diese Idee wären nur die wenigsten gekommen. Aber wer im Februar 2021 eine Musiktheaterproduktion auf die Beine stellen wollte, musste umdenken. Neu denken. Und bislang ungewohnte Wege gehen. Wie Viktoriia Vitrenko.

Die in Berlin lebende Sopranistin, Dirigentin und künstlerische Leiterin entwickelte gemeinsam mit Kai Chun Chuang, N. Andrew Walsh, Yiran Zhao, Lucas Gerin, Christopher Bühler und Sasha Pais „Chatroom“, ein einzigartiges Hybridformat für das Stuttgarter Eclat-Festival: eine Art Computerspiel oder interaktiver Film im Stile der britischen Netflix-Produktion „Bandersnatch“. Bandersnatch führt die Zuschauer in einen Bunker unter den Stuttgarter Diakonissenplatz, in dem eine Gruppe von Menschen Zuflucht vor einer postapokalyptischen Außenwelt sucht, in der eine nicht weiter benannte Infektion alles Leben bedroht. Die Bewohner des Bunkers sind schon die dritte Generation, die von der Außenwelt abgeschnitten ist, sie suchen nach Heilung und ein wenig Normalität in ihrer eigenen Happy-Hippie-Welt. Ob sie sie finden? Oder ist alles nur eine Illusion? Das Ende der Geschichte liegt auch in der Hand der Spielenden und ihrer Entscheidungen im Laufe des Spiels.

Das Projekt wirkt wie ein recht offensichtlicher Kommentar auf Covid-19 und Lockdowns, ist es aber mitnichten, sagt Vitrenko. „Die Idee des Projekts Chatroom entstand noch vor Covid.“ Eigentlich hatte das Team ein immersives Musiktheatererlebnis geplant. Die Realität der Pandemie aber holte das Projekt schnell ein. Die üblichen Räume standen nicht zur Verfügung, Theater waren geschlossen, Säle standen leer. Ein Verlust? Nein, eine Herausforderung: „So haben wir die Möglichkeit gesehen, die Performance in ein hybrid-digitales Format umzuwandeln, die viel mehr Möglichkeiten birgt.“ Die digitale Version erlaubt es, von einer linearen Erzählweise abzurücken, mehr Spielelemente einzufügen, dem Publikum mehr Eigenverantwortung über seine Erlebnisse einzuräumen, aber auch mit Künstler:innen zusammenzuarbeiten, die eben nicht vor Ort sind, sondern, wie im Fall von Chatroom, in der Ukraine ansässig sind. Und statt in einem Theatersaal entschieden sie sich dazu, das Stück im Diakonissenbunker, einem der wenigen noch öffentlich zugänglichen Bunker in Stuttgart, zu inszenieren. „Wir haben einen Raum gesucht, in dem wir miteinander täglich zwar getestet, aber trotzdem ohne Maske arbeiten konnten.“ Als eigene Bubble, ein wenig so abgeschnitten von der Außenwelt wie auch die Protagonist:innen des Spiels.

Für das Team war die Produktion eine Premiere, an einem solchen Projekt hatte keiner von ihnen bislang gearbeitet. „Wir waren fast zwei Monate Tag und Nacht in diesem Bunker“, erzählt sie und lacht, „um alles zu recherchieren, das Szenario zu schreiben, die Kostüme zu entwickeln, das Set-Up aufzubauen und alles zu filmen.“ Das Team arbeitete vor Ort in Stuttgart zusammen, aber auch digital mit Teammitgliedern in der Ukraine. Sie entwickelten ein eigenes Libretto und waren alle in alle einzelnen Aspekte des Projekts involviert. So wurde aus der Sopranistin etwa auch eine Schauspielerin und Tänzerin, alle Beteiligten erhielten so die Möglichkeit, sich auch in ganz anderen Kunstformen auszuprobieren und neu zu entdecken – und auch neue Skills wie Projektmanagement, Vermarktung und Öffentlichkeitsarbeit zu übernehmen. Alles im Kollektiv statt alleine. Auch eine neue Erfahrung.

 

Kunst für eine bessere Welt

Das Ergebnis dieses Schritts ins Unbekannte – im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn – kann sich sehen lassen: nach einer digitalen Releaseparty im Rahmen des Eclat-Festivals für Neue Musik besuchten rund 4000 Personen die Webseite und ließen sich auf das Abenteuer Chatroom ein. Und die kamen eben nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus der Ukraine, aus den USA, Frankreich, Belarus, den Niederlanden, Belgien, Polen, Großbritannien, China, Südkorea und vielen weiteren Ländern. Die digitale Form des Projekts wurde so weit mehr als nur eine Notlösung, im Gegenteil: es erlaubte ihm ein ganz anderes, weitaus breiteres Publikum zu erreichen. Und zwar ein Publikum, das unter herkömmlichen Festivalbedingungen wohl kaum die Möglichkeit gehabt hätte, Kunst aus und in Stuttgart zu erleben. Und das vielleicht auch bislang nur wenige Berührungspunkte mit Neuer Musik, experimenteller Kunst und Tanz hatte, allein dadurch, dass Chatroom in seiner Form einem Computerspiel nicht nur ähnelt, sondern ganz grundsätzliche Charakteristika des Computerspiels inne hat und somit auch Gamer:innen anzog. „Im Hintergrund hatten wir so etwas wie eine U-Bahn-Netzkarte“, erzählt Vitrenko. Wie eine Art Flowchart mit unterschiedlichen Strängen waren so im Backend der Plattform verschiedene Spielwege vorgegeben. Ähnlich eines U-Bahn-Netzes waren Entscheidungen der Nutzer:innen so etwas wie „Umstiegspunkte“, an denen sie von einem Erzählstrang zu einem anderen wechseln konnten – und so verschiedene Ziele erreichten. Diese „Netzkarte“ verband die verschiedenen Räume des Spiels und bildete das Rückgrat der Plattform. Mit jeder ihrer individuellen Entscheidungen wurden die Teilnehmer:innen durch das fragmentierte Narrativ und seine einzelnen Elemente geschleust. 

Das Thema des Bunkers nahm über die letzten Monate zusätzlich eine andere, politisch dringliche Relevanz an – gerade für Vitrenko als gebürtige Ukrainerin. Seitdem Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 angegriffen hat, ist das Leben in einem Bunker für viele Menschen in ihrem Geburtsland wieder bitterer Alltag geworden. Auf Chatroom, so wie das Stück heute online abrufbar ist, haben die kriegerischen Entwicklungen keine Auswirkungen, auch wenn es der Sicht auf das Projekt einen neuen Aspekt verleiht. Aber der Angriffskrieg auf die Ukraine färbt Vitrenkos Arbeit seitdem: „Ich nutze meine Fähigkeiten als Produzentin und künstlerische Leiterin um ukrainische Künstler:innen vor Ort in der Ukraine zu unterstützen.“ Das sind etwa Spendenaktionen, die Stipendien für Musiker:innen und visuelle Künstler:innen ermöglichen, die im Land geblieben sind, oder mit Förderung des Goethe-Instituts ein Festival zeitgenössischer Musik aus der Ukraine an öffentlichen Orten in Stuttgart.

Das Politische und das Künstlerische gehen für Viktoriia Vitrenko Hand in Hand: geboren in der Ukraine, trat die mittlerweile in Berlin lebende Sopranistin, Dirigentin und künstlerische Leiterin auf der ganzen Welt auf. Mit ihrer Initiative InterAKT fokussiert sie sich auf interdisziplinäre Arbeiten an ungewöhnlichen Orten und mit ungewöhnlichen Kooperationspartner:innen. „Ich bin weniger an Projekten interessiert, die nur rein künstlerischen Wert haben – sondern denke darüber nach, dass sie auch sozial etwas bewirken. Es geht mir darum, wie ich meine Kunst, meine Fähigkeiten und mein Potential für die Gesellschaft nutzen kann? Wie kann sie unterstützend wirken, wie kann sie dabei helfen, Probleme zu lösen?“ Die Aufgabe von Kunst, gerade in diesen krisenbeladenen Zeiten, liegt für Vitrenko darin, anderen zu helfen und Räume und Aufmerksamkeit für jene zu schaffen, die sie aktuell brauchen. „Ich glaube daran, dass die Auseinandersetzung mit aktuell relevanten gesellschaftlichen Themen einen selbst auch künstlerisch viel, viel weiter bringt“, erzählt sie. 

Mit Chatroom haben sie und ihre Mitstreiter:innen beispielhaft gezeigt, wie gesellschaftlich relevante Kunst in neuen Formaten ein breites Publikum, vom Kunstfan bis zum Computerspiel-Nerd, begeistern kann. Die nächsten Projekte stehen übrigens schon in den Startlöchern. Es wird um die Ukraine gehen, so viel kann man schon verraten, und natürlich treffen wieder verschiedene künstlerische Formen, von Tanz über Literatur bis hin zu elektronischer Musik, im öffentlichen Raum aufeinander. Kunst nicht als Selbstzweck, sondern für eine bessere Welt – Viktoriia Vitrenko zeigt, wie dieser Wunsch zur Realität werden kann.

Text: Aida Baghernejad